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Übersicht

  1. Samtusta – Mit leichtem Gepäck (02017)
  2. SAMTUSTA – Buddhistische Grundlagen für eine Ethik der Zufriedenheit (02015)
  3. Hommage an die Bodhisattva Greta (02020)
  4. Neue Motive braucht das Land (02019)
  5. Auf 8 Pfaden zum ökologischen Wandel (02018)
  6. Dharma aktuell – eine kleine Einführung in die Lehre des Buddha (02020)
  7. Die Peitsche der Gier-Wirtschaft (01996)
  8. Motive für meine Mitarbeit in der DBU (02017)
  9. Eine Null als Glocke der Achtsamkeit (02012)

1. Samtusta – Mit leichtem Gepäck

Das aber sei dein Heiligtum: Vor dir bestehen können. (Th. Fontane)

Die Lehre des Buddha ist die unvoreingenommene Anwendung des gesunden Menschenverstands auf das ganze Leben und das Leben als Ganzes. Deren Praxis ist es, jegliches Geschehen in der Gegenwart offenherzig und umfassend wahr (!) zu nehmen.

Seit einiger Zeit wird immer klarer, dass die Menschheit in einem Dilemma steckt. Einerseits lebt sie in der erfolgreichsten Zivilisation der Geschichte, deren Technologien und Institutionen scheinbar unendliche Möglichkeiten schaffen. Andererseits beruht dieses Privileg auf einer ständigen Leugnung der Begrenztheit des Planeten Erde.

Das Ignorieren dieser Rahmenbedingungen erfolgt systematisch. So entnimmt in Mitteleuropa jeder Mensch jeden Tag der Natur ein Vielfaches dessen, was für eine enkeltaugliche Lebensweise zuträglich ist.

Um den Widerspruch zwischen diesem Wissen und dem tatsächlichen Handeln aufzulösen und durch veränderte Gewohnheiten eine heilsamere Perspektive zu entwickeln, werden äußere und innere Kraftquellen benötigt.

Anregungen von außen gibt es viele. Aufrufe zur „universellen Verantwortung“ nehmen zu. Schon vor 25 Jahren propagierte eine große Umweltkonferenz das Motto „global denken – lokal handeln“. Der Spruch „all we need is less“ ist in aller Munde und das Lied „Es reist sich besser mit leichtem Gepäck“ ein Hit.

Um leichteres Gepäck nicht als Verzicht zu erleben, ist ein innerer Wandel nötig. Dieser beinhaltet die Rückgewinnung der persönlichen Integrität, also die Erfahrung, in den Spiegel zu schauen, ohne ein von Selbstüberhöhung und widersprüchlichem Handeln gezeichnetes Wesen zu betrachten. Erst wenn die einzelnen Menschen einen Alltag gestalten, der der Erde und der Zukunft eine Stimme gibt, ebnet sich der Weg zum wirklichen Beenden der Überschreitung ökologischer Grenzen.

Es ist genug vorhanden, um ein integeres und erfülltes Leben zu führen. Dieses Wissen hat der Buddha als „Samtusta“ bezeichnet: „Versöhnt und zufrieden in dieser Welt anwesend sein und sich in ihr ganz und wach zu Hause fühlen – und entsprechend handeln“.

Dieser Text erschien im Kalender 02017 (Thema „Grenzüberschreitungen“), den der Arbeitskreis „Religionen in Oldenburg“ seit 02015 herausgibt.


2. SAMTUSTA – Buddhistische Grundlagen für eine Ethik der Zufriedenheit

„Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird unsere Zivilisation zerstört werden“, sagte der vietnamesisch-buddhistische Mönch und Meditationsmeister Thich Nhat Hanh einmal und drückte damit aus, was immer mehr Menschen empfinden und erkennen: Der Lebensstil der heutigen Industrieländer befindet sich in einer Sackgasse. Doch um einen neuen Weg einschlagen zu können, ist es nötig, zu verstehen, welchen Ursprung die heutige Situation hat und vor allem, welche Motivationen dahinterstecken und wie sich menschliches Handeln auf eine neue Grundlage stellen lässt.

Ausgangspunkt der Lehre des Buddhas ist die Einsicht, dass sich leidvolle Zustände erst durch die Beseitigung ihrer Ursachen überwinden lassen. Auf individueller Ebene hat der Buddha die Gründe für Leid klar benannt: Gier, Hass und Verblendung, die im Alltag als Eigensinn, Neid und Ablenkung erscheinen. Auf der gesellschaftlichen Ebene zeigen sich diese Motive als Gewinnmaximierungs- und Konkurrenzprinzipien, die sich verselbständigt und zu Dogmen verfestigt haben. Die schädlichen Folgen werden heute ignoriert oder sogar akzeptiert. All das führt zu einer immer gnadenloseren Plünderung der Ressourcen der Erde und der Zukunft.

Insbesondere die Begüterten vergrößern mit ihren überhöhten Ansprüchen den ökologischen Fußabdruck um ein Vielfaches des für die Erde tragbaren Maßes. Da sie gleichzeitig einen maßgeblichen Einfluss auf die Politik und die Ausrichtung der Gesellschaft haben, tragen vor allem sie dazu bei, dass die heutige Wirtschaftsweise den Zustand „genug“ nicht kennt, sondern permanentes Wachstum fordert. Eine Abkehr von diesem Prinzip könne, so wird behauptet, nur in einem fatalen Zusammenbruch enden. Das Prinzip des Vermehrens wird darum mit allen Mitteln verteidigt.

Tatsächlich ist die Wachstums- und Wettbewerbsökonomie ein mit viel Fantasie und Engagement auf- und ausgebautes System, das die Menschheit – mittlerweile global – mithilfe vermeintlicher ökonomischer Sachzwänge zu ihrem eigenen Untergang peitscht. Die heutige Form des Wirtschaftens ist jedoch kein Naturgesetz, sondern ein von Menschen entwickeltes Verfahren, die Produktion von und den Handel mit Waren zu regeln. Selbstverständlich ließe sich diese Methode von Menschen auch wieder ändern.

Und sie wird sich ändern. Allein schon die Begrenztheit der Erde verurteilt das Steigerungsspiel zum Scheitern. Damit dies nicht als Desaster, sondern als selbstbestimmter Umschwung geschieht, haben alle gesellschaftlichen Akteure daran mitzuwirken, eine Ökonomie jenseits von Renditedenken, Rivalität und Knopfdruck-Konsumismus zu entwickeln. Umsichtige Formen des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Miteinanders sollten aber nicht aus Furcht vor dem Crash entstehen, sondern aus der Attraktivität einer nachhaltigen Perspektive. Erforderlich ist ein Austausch der bisherigen Antriebskräfte. Neue Motive braucht das Land – vor allem in der Wirtschaft.

Das Streben nach Suffizienz und Zukunftsfähigkeit wird bereits vielerorts mit Konzepten wie solidarische, ökologische, Gemeinwohl- oder Postwachstumsökonomie voran getrieben. Auch konkrete Projekte wie Tauschringe, Repair-Cafés, Urban Gardening, Genossenschaften oder Öko-Dörfer entstehen zunehmend.

Für diese Aktivitäten stellt die Lehre des Buddha viele Formen der Unterstützung bereit. So fördern Meditationsübungen die Fähigkeit des Menschen, das Leben als fließendes Projekt wahrzunehmen und sich nicht als abgetrennt und vereinzelt, sondern als vollständig integrierter Teil der Natur zu erleben. Mit dieser Grundhaltung wird es selbstverständlich, die Natur zu schützen.

Dieses wissende Gefühl ist Ausdruck einer Ethik, die vom Buddha mit samtusta überschrieben wurde und mit den drei Begriffen Genug, Zufrieden, Achtsam sein erläutert werden kann. Da Samtusta individuell umgesetzt wird, gibt jeder Mensch dieser Haltung eine persönliche Ausprägung.

  1. Die Idee des „Genug“ geht von der Einsicht in die Grenzen des Planeten Erde aus und hat viele geistige Auswirkungen. Zudem sind in vielen Regionen weit mehr als die Grundbedürfnisse gesichert – ein Grund, Dankbarkeit zu empfinden und sie als Auftrag zu sehen, sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um die Mitwelt zu sorgen und zu kümmern.
  2. Wie viel ist genug? Ist diese Definition erst einmal von ökonomischen Zwängen befreit, lässt sich die Angst vor Verzicht als ein Gefühl erkennen, das von einer Gier-Wirtschaft provoziert wird, die den Menschen zum ständigen Vergleichen und Bewerten zwingt. Wer für sich persönlich die Frage nach dem menschlichen Maß zu beantworten weiß und einen mittleren Weg beschreitet, wird Zufriedenheit erleben und auch dazu beitragen können, möglichst wenig Rohstoffe und Energie zu verbrauchen. Das ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, der aus der Sackgasse führt.
  3. Um in einer von Expansionsstreben, Leistungsdruck und Täuschung beherrschten Gesellschaft Haltungen wie „genug“ und „zufrieden“ ausdrücken zu können und sich für eine Wende einzusetzen, wird eine geistig-psychische Widerstandskraft („Resilienz“) benötigt. Die Fähigkeit, achtsam zu sein und alle Facetten der Wirklichkeit unvoreingenommen auf eine bewusste und gelassene Weise anzunehmen, kann sich dabei als Kraftquelle erweisen.

Wer das Dasein meditativ, also ruhig und wach betrachtet, vermag allmählich die unheilsamen Vorgaben der gegenwärtigen Kultur zu durchschauen. Um sie zu überwinden, bietet sich Samtusta als zentrale Kategorie einer heilsamen Ethik an: verlässlich sein, konstruktiv handeln und nachhaltig wirksam kooperieren. Es ist ebendiese Ethik, die sich als Richtschnur für eine neue Ökonomie eignet, jenseits von Wachstum und Wettbewerb und jenseits davon, Ausbeutung und Naturzerstörung zu leugnen und zu ignorieren.

Tatsächlich enthält das Universum alle Bedingungen für eine bewusste und integere Existenz. Indem sich das Leben im Menschen wahr nimmt, kann sich der menschliche Geist der Verantwortung für das gesamte Sein öffnen und die einmalige Chance nutzen, das Dasein als Mensch klug, kreativ und behutsam dafür einzusetzen, eine Gemeinschaft zu entwickeln, die von Zusammengehörigkeit und Wandel geprägt ist.

Wer in Festhalten, Abneigung, Eile und Täuschung verharrt, verpasst diese Erfahrung und missachtet das Wunder, ein lebendiges Wesen zu sein. Selbstbezogenheit, Hast und Gegeneinander führen zu Intoleranz, Angst und Vereinzelung. Eine Kultur, die durchdrungen ist von Achtsamkeit, Integrität und Verbundenheit, erlaubt ein Leben in Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut.

Es gibt keinen Weg zur Zufriedenheit – Zufriedenheit ist der Weg.

SAMTUSTA wird im Aryavamsa-Sutra im Sinne von „zufrieden, befriedigt, versöhnt sein“ verwendet, um die „Vier Edlen Bräuche“ zu erläutern: „Mönch ist zufrieden mit Robe, Mönch ist zufrieden mit Almosenspeise, Mönch ist zufrieden mit Liege-und-Sitz, Mönch findet Gefallen am Bewirken“.

Michael Radich übersetzt in seiner 2009 in Japan erschienenen Dissertation „The Doctrine of Amalavijnana in Paramarth (499-569)“ den Begriff „samtusta“ mit „completely satisfied“ („vollkommen befriedigt“).

Dieser Text wurde in der Ausgabe 4/02015 der Zeitschrift „Buddhismus aktuell“ veröffentlicht.


3. Hommage an die Bodhisattva Greta

Every time I see a child, I think about the world we will leave behind for that child.
Jedes Mal wenn ich ein Kind sehe, denke ich über die Welt nach, die wir diesem Kind hinterlassen.
(Thich Nhat Hanh)

Im Jahr 1981 geriet mein Leben in eine Phase, die von Erschöpfung, Rückzug, Antriebslosigkeit und Zukunftszweifel gekennzeichnet war. Einige Gründe für diesen Zustand hat die amerikanische Systemwissenschaftlerin und Buddhistin Joanna Macy zehn Jahre später in Worte gefasst: „Heute haben wir die Sicherheit verloren, dass wir eine Zukunft haben werden. Und ich glaube, der Verlust dieser Gewissheit ist die zentrale psychologische Realität unserer Zeit. Viele Therapeuten tun sich schwer mit der Vorstellung, dass die Sorge um das Wohl der Allgemeinheit so groß sein kann, dass sie den Einzelnen in ernste Bedrängnis bringt (*).“

Die Bewältigung meiner Krise enthielt auch einen Vortrag eines weißbärtigen Professors über das Leben im Allgemeinen und im Besonderen. In der anschließenden Diskussion nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte ihn: „Wenn ich feststelle, dass sich die Gesellschaft in eine falsche Richtung entwickelt und ich mich mit meiner eigenen Kraft an diesem Irrweg zu beteiligen habe – was soll ich tun?“

Seine Antwort „weitergehen“ befriedigte mich nicht, gehörte aber zum Beginn einer Kurve, die mich fast zwei Jahre durch Süd- und Ostasien führte, um als Individual-Reisender (damals Backpacker oder Traveller genannt) die Welt aus ungewohnten und möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten.

Auf diese Weise kam ich mit fernöstlichen Weisheitslehren in Berührung und beschäftigte mich nach meiner Rückkehr mit Achtsamkeit und Entschleunigung, indem ich Taijiquan, Qigong und Sitz-Meditation lernte und praktizierte. Zahlreiche Retreats mit Thich Nhat Hanh und dem Dalai Lama halfen mir, die Essenz des Dharma zu verstehen und von einer grundsätzlichen und vollständigen Verbundenheit mit der Welt (Intersein) ausgehend eine Art inneren Frieden zu erleben.

Die schwedische Umwelt-Aktivistin Greta Thunberg hat in einem viel jüngeren Alter eine ähnliche Krise durchgemacht und darauf wesentlich radikaler und offensiver reagiert. Ihre Schlussfolgerungen aus ihrer Analyse des Umgangs der Menschen mit der globalen Biosphäre hat sie am 25. 1. 02019 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zusammengefasst: „Ich will, dass ihr in Panik geratet und die Angst verspürt, die ich jeden Tag habe!“

Indem sie diesen Aufruf am 23. 7. 02019 im französischen Parlament mit der Aussage ergänzte: „Ihr müsst uns nicht zuhören. Aber Ihr müsst der Wissenschaft zuhören. Das ist alles, was wir verlangen“, verhielt sie sich wie eine Bodhisattva, jener „im Weltleben stehenden Menschen, die von Güte und Mitgefühl getragen“ sich „zum Wohle aller mitfühlenden Wesen einsetzen“ (Wikipedia).

Greta Thunberg ist keine Ikone, sondern eine bodenständige Person, die tief in unsere gegenwärtige Lebensweise hineingeschaut und aus ihren Einsichten konkrete Aktionsvorschläge erarbeitet hat. Sie verkörpert Botschaften, die zum Nachdenken anregen: Über die Unterschiede zwischen den als notwendig erkannten und den tatsächlichen Handlungen, über eigene Inkonsequenzen im Umgang mit Ressourcen, über unangemessene Lebensträume und Alltagsgewohnheiten, über den eigentlichen Sinn des Daseins.

Die 16-jährige Greta ist eine von Festigkeit und innerer Freiheit durchdrungene Persönlichkeit, die es nicht stört, wenn viele Menschen die von ihr ausgehenden Botschaften (noch) nicht an sich heranlassen wollen, sondern mit allen Mitteln probieren, die Botschafterin zu „bashen“ oder zu diskreditieren. Sie ist eine Bodhisattva, weil sie aus voller Überzeugung daran arbeitet, den vor 40 Jahren von Hans Jonas formulierten „ökologischen Imperativ“ zu verwirklichen: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (**)

Greta ist ein Mensch wie du und ich, denn wir sind alle potentielle Bodhisattvas, also prinzipiell in der Lage, ein integeres Leben zu führen. Indem wir unsere räumlich-materielle Verbundenheit mit der Erde akzeptieren und sie als unseren – einzigen – Heimatplaneten anerkennen, verhelfen wir ihr zu einer Stimme in uns selbst, die uns ständig zu einer achtsamen und behutsamen Pflege der Mitwelt aufruft. Aus der Einsicht in unsere zeitliche Verbundenheit mit dem Dasein können wir den „friday for future“ auf alle Tage der Woche ausdehnen und der Zukunft eine Stimme in der Gegenwart geben.

Möge es Greta und uns gelingen, zum Wohle aller – auch der zukünftigen – Wesen zu wirken.

(*) Joanna Macy: Die Wiederentdeckung der sinnlichen Erde; Zürich 1994; S. 19 + 36
(**) Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung – Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, Frankfurt 1979; S. 36

Dieser Text erschien im September 02019 im Programmheft des Vereins „Achtsamkeit in Oldenburg“ und in leicht veränderter Form in der Buddhismus aktuell (Heft 1/02020).


4. Neue Motive braucht das Land

Wie Achtsamkeit den Einsatz für die Mitwelt beflügelt

Die Menschheit steckt in einer Zwickmühle. Ein ‘weiter so‘ führt zu einem Kollaps, der eine unbeherrschbare Umkehr erzwingen wird. Eine rechtzeitige Wende erfordert ebenfalls radikale Veränderungen. Für sie werden neue Ziele und Motive gebraucht. Mit Achtsamkeit und einer Ethik der Zufriedenheit lassen sich Wege in eine Kultur des Genug finden und beschreiten.

Jeden Freitag rufen weltweit immer mehr Kinder und Jugendliche: “Wir haben Angst um unsere Zukunft!“ Denn nahezu alle Umwelt-Expertinnen und Experten sind sich einig: Wenn nicht sehr bald eine umfassende kulturelle Wende erfolgt, sind das Artensterben, die globale Erhitzung, der Klimawandel und ein Kollaps der heutigen Zivilisation kaum noch zu verhindern.

Wer diese Botschaften nicht nur wahr, sondern auch ernst nehmen möchte, hat sich zu fragen: “Wie ist dieser Irrweg entstanden? Was ist sein eigentlicher Ursprung?“ Eine wichtige Antwort: Die gegenwärtigen Fehlentwicklungen sind das Ergebnis zahlloser individueller Handlungen, die sich aus einer übertriebenen Orientierung an materiellen Wertvorstellungen ergeben.

Vor allem im Bereich Wirtschaft hat sich der Wunsch nach haben-, mehr-haben- und mehr-als-andere-haben-wollen zu einer Art Dogma verfestigt: dem Streben nach Expansion und Wachstum. Solange diese einseitige Ausrichtung als ökonomisches Prinzip in einem Wettkampf aller gegen alle (inklusive der nachfolgenden Generationen) und ohne Rücksicht auf die Begrenztheit des Planeten Erde durchgesetzt wird, solange ausufernde Konsumgewohnheiten zu Überfluss und Verschwendung führen, solange Vereinzelung mit Freiheit und Abgrenzung mit Individualität verwechselt wird – solange rast die Menschheit in eine Sackgasse.

Doch wie ist ein Umschwung rechtzeitig und freiwillig zu erreichen? Da jeder Mensch ein Teil der Probleme ist, ist er auch ein Teil der Lösungen. Hier bietet sich die menschliche Fähigkeit „Achtsamkeit“ als Hilfsmittel an. Schädliche Antriebskräfte können durch genaues Hinschauen und präzise Analysen ständig identifiziert und vermieden werden. In gleicher Weise lassen sich heilsame Beweggründe wie Verbundenheit, Verantwortung, Mitgefühl, Integrität und Behutsamkeit entdecken und im Einsatz für die Mitwelt nutzen und beflügeln.

Diese Motive und Ziele eignen sich auch als Basis und Rahmen einer “Ethik der Zufriedenheit“, die der Begrenztheit unseres Heimatplaneten mit einer dem menschlichen Maß entsprechenden “Kultur des Genug“ begegnet. Wer achtsam ist und der Erde und der Zukunft eine Stimme in sich selbst gibt, kann die eigenen geistigen Fähigkeiten in ein sozial und ökologisch ausgerichtetes und gleichzeitig aufrichtiges und ausgewogenes Engagement fließen lassen.

Dieser Text kündigte einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „25 Jahre Umwelthaus Oldenburg“ am 11. 9. 02019 im PFL-Kulturzentrum Oldenburg an.


5. Auf 8 Pfaden zum ökologischen Wandel

Der Mensch ist nicht nur Teil des ökologischen Problems, sondern auch seiner Lösung. Der „Achtfache Pfad“ des Buddha lässt sich auch als acht Motive für einen ökologischen Wandel interpretieren.


Das aber sei dein Heiligtum: Vor dir bestehen können.
(Theodor Fontane)

Die gegenwärtige Situation erscheint vielen Menschen besorgniserregend und äußerst fragil. Als Menschheit fahren wir auf Sicht. In immer höherem Tempo rasen wir dahin und ignorieren dabei die fatalen Folgen unserer Aktivitäten. Wie lange wird das noch gut gehen? Schon verschwinden Vögel und Insekten, vermindert sich die Humusschicht, verpestet Smog die Luft, sinkt vielerorts der Grundwasserspiegel, werden Flüsse zu Kloaken, sterben Tierarten aus – von Ressourcenmangel, sozialer Ungerechtigkeit und den Folgen des Klimawandels und der Überbevölkerung ganz zu schweigen.

Millionen Menschen leiden unter Hitze und Hunger, fliehen vor Dürren und Armut, verzagen aus Kraft- und Chancenlosigkeit. Doch was ist mit den scheinbar nicht direkt Betroffenen? Sie erfahren zwar von diesen Nöten und Ängsten, haben aber das Gefühl, das habe nichts mit ihrem Tun und Verhalten zu tun. Dass wir uns längst in einer „Sackgasse“ befinden, wird von den wenigsten wahr und ernstgenommen. Und die weit verbreitete Haltung „Nach mir die Sintflut!“ führt selten zu der Einsicht: „Auch ich sorge tatkräftig dafür, dass sie sich nähert!“

Gleichzeitig widersprechen immer weniger Menschen der Aussage des buddhistischen Mönchs Thich Nhat Hanh: „Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird unsere Zivilisation zerstört werden.“ Sie stimmen dem Philosophen Jean Gebser zu, der 1949 feststellte: „Entweder überwinden wir die Krise, oder sie überwindet uns“. Sie unterschreiben den Aufruf der „Allianz der Welt-Wissenschaftler“, dass „wir endlich anerkennen müssen, dass die Erde unser einziges Zuhause ist“. Oder nicken, wenn sich der Dalai Lama wünscht: „Wir haben zu lernen, nicht nur für unser eigenes individuelles Selbst, unsere Familie und Nation zu arbeiten, sondern für das Wohl der gesamten Menschheit“.

Die Lehre des Buddha betrachtet das Dasein in seiner Schönheit und in seiner Widersprüchlichkeit. Unbeständigkeit und Verbundenheit sind ihr wesentliche Merkmale des Daseins. Sie wertschätzt die Fähigkeit des Menschen, sich aufrichtig und bewusst dem täglichen Leben und dem Leben als Ganzes zu widmen. Und sie überwindet die vermeintliche Trennung von Mensch und Umwelt zugunsten eines wissenden Gefühls des wechselseitigen Bedingtseins.

Die Vorstellung von einer „Mitwelt“ ist eine stabile ethische Grundlage für einen behutsameren Umgang mit der Erde. Mit ihr lassen sich individuelle Sehnsüchte und Abneigungen als Triebfedern der globalen Krisen identifizieren. Weil jeder einzelne Mensch ein Teil der Probleme ist, ist er auch ein Teil der Lösungen. Orientiert an dem vom Buddha erarbeiteten „Achtfachen Pfad“ zeigen sich acht Motive für einen ökologischen Wandel: vollkommene Sammlung, Achtsamkeit, Ansicht, Absicht, Sprache, Handlung, Lebensweise und Bemühung.

  1. Sammlung: Anwesend sein

In einer vom Streben nach Gewinn und Wachstum angetriebenen und von Eile und Effizienz beherrschten Gesellschaft wird es ohne Entschleunigung und Meditation keine nachhaltig wirksame Wende geben. Abbremsen, anhalten und innere Sammlung sind nötig, um die gewohnten, aber absehbar in eine Sackgasse führenden Wege verlassen zu können. Eine ruhige Wahrnehmung und Bejahung der eigenen Anwesenheit verdeutlicht die besondere Verabredung des Menschen mit dem Dasein: Leben geschieht ausschließlich im gegenwärtigen Augenblick.

  1. Achtsamkeit: Genau hinschauen

Wer konzentriert in der Gegenwart verankert ist, öffnet sich Türen zu einem unvoreingenommenen Umgang mit der Fülle des Seins. Das ganze Leben und das Leben als Ganzes können nun genau angeschaut und tief betrachtet werden. Die Fähigkeit, achtsam zu sein, beinhaltet eine geistige Durchdringung auch der leidvollen Erscheinungen. Gerade sie rufen zu einer von Vernunft und Mitgefühl geprägten Bewältigung der Umstände der menschlichen Existenz auf.

  1. Ansicht: Verbundenheit leben

Aus buddhistischer Sicht sind Individuen und Gesellschaft, Ursachen und Wirkungen und so weiter eine lebendige Einheit. Alle und alles sind Teilnehmende eines grundsätzlichen Zusammenseins, das sich in jedem Moment manifestiert. Menschen als bewusste Wesen verwirklichen diese Verbundenheit, indem sie die Erde als ihre einzige Heimat erleben und daraus eine universelle Verantwortung ableiten, deren Qualität sich durch die Verminderung des eigenen Beitrags an der Schädigung der Mitwelt verbessern lässt.

  1. Absicht: Auf die Motive kommt es an

Indem Menschen global denken und individuell handeln, verstehen sie sich sowohl als Teil der Probleme als auch der Lösungen. Da es nur in der Gegenwart möglich ist, sich um die Zukunft zu kümmern, ist es notwendig, die Ursachen und Motive zerstörerischer Tätigkeiten jetzt zu transformieren. Der Antrieb „Mehr haben wollen“ ist durch Großzügigkeit und Zufriedenheit zu ersetzen, dem „Mehr als andere haben wollen“ sind Miteinander und Freundlichkeit vorzuziehen und die Haltung „Spätfolgen nicht wahr haben wollen“ sollte dem Wunsch nach Aufrichtigkeit und „Enkeltauglichkeit“ weichen.

  1. Sprache: Wächter an den Sinnestoren

Kommunikation ist eine zentrale Errungenschaft der menschlichen Kultur. Ohne aufmerksame innere Wächter beim Hören, Sehen und Sprechen führen die vielfältigen Interpretationen der ungeheuren Menge des heutigen Wissens jedoch schnell zu Irritationen und falschen Vorstellungen. Ein Umschwung benötigt eine Balance zwischen Offenheit, Redlichkeit und Vertrauen. Weder sollten eigene und äußere Widersprüche geleugnet noch tiefes Verständnis und Anteilnahme unterdrückt werden. Nur Wesen mit Bewusstsein können der Erde und der Zukunft eine Stimme geben.

  1. Handeln: Vor dir bestehen können

Viele der vom Habenwollen bestimmten Handlungen vernichten allmählich die natürlichen Grundlagen des Lebens. Diese Gewohnheiten sollten in eine mit heilsameren Zielen verknüpfte Spontanität überführt werden. Es gilt, den bisherigen Automatismus von Reiz und Reaktion zu unterbrechen und zwischen Impuls und Tat eine Distanz herzustellen. Als Kriterien für neuartige Verhaltensweisen eignen sich Integrität („Jederzeit vor dir bestehen können“), Beachtung der Wirkungen („Zukunftsfähigkeit“) und die goldene Regel („Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu“).

  1. Lebensweise: All we need is less

Der zurzeit übliche Vorrang materieller Wünsche bei vielen Entscheidungen ist durch eine Orientierung am menschlichen Maß zu ersetzen. Ein derartiges Vorgehen führt zu einer nicht mehr auf Wachstum angewiesenen Ökonomie und zu einer Kultur, die sich am Gemeinwohl ausrichtet und dem „Mittleren Weg“ entspricht, den der Buddha mit Samtusta („zufrieden, befriedigt, versöhnt sein“) veranschaulicht hat: Die Welt hat genug, um Freude daran zu finden, in ihr zu wirken und achtsam und zufrieden zu sein. Für die individuelle Ausfüllung dieser von Suffizienz geprägten Lebensweise sind Vorschläge hilfreich, die sich vor Ort umsetzen lassen – zum Beispiel die Einhaltung des ökologischen Fußabdrucks, regionale Versorgung, gemeinsame und behutsame Nutzung von Vorräten und Besitz, Vermeidung von Überfluss, Ein-Kind-Familie, ausgewogene Mobilität … all we need is less.

  1. Bemühung: Zum Wohle aller Wesen

Leben ist eine fantastische Erscheinungsform der Natur, das menschlichen Wesen sogar eine bewusste Teilnahme ermöglicht. Sie sind in der Lage, gefährdete Lebensbedingungen als Antriebskraft für eine gut durchdachte Wende und zur Heilung zu nutzen. Dieses weltzugewandte Zusammenspiel von Geist und Tun, von Spiritualität und Handeln wird durch eine buddhistische Ökologie beflügelt, die sich als Dreischritt „Umwelt-Mitwelt-Engagement“ versteht. Indem Menschen zum Wohle aller Wesen wirken, verbinden sie ihre Begabung für ein waches und integeres Leben mit dem Streben nach einem ökologischen Wandel und versehen beides mit einer ethischen Grundlage.

(Dieser Text erschien in der Buddhismus aktuell 3/02018)


6. Dharma aktuell

Eine kleine Einführung in die Lehre des Buddha (*)

Das Heilsame tun, das Unheilsame lassen: Das ist die Lehre des Buddha.

Menschen benötigen einen gesunden Geist und klare Motive und Ziele, um mutig und konstruktiv mit persönlichen Problemen und aktuellen gesellschaftlichen Krisen umzugehen und sie zu lösen. Die Lehre des Buddha (Dharma) kann hier eine ergiebige Quelle sein, da sie umfangreiche Grundlagen für die Bewältigung von Schwierigkeiten anbietet.

Zwar ist der historische Buddha schon vor 2.500 Jahren gestorben und seine Lehre ausschließlich in Süd- und Ostasien kulturell verankert. Doch gegenwärtig erfreut sich diese Lehre auch in Europa und Nordamerika wachsender Beliebtheit. Schließlich ist sie „so schön praktisch“, indem sie nicht nur dazu anregt, die persönliche Anwesenheit und die Bedeutung der menschlichen Existenz zu erforschen, sondern auch dafür passende Methoden vorschlägt (Achtsamkeit, Meditation, Entschleunigung, gewaltfreie Kommunikation usw.). Wer sie praktiziert, wird feststellen, dass auch die Inhalte des Buddha-Dharma überzeugen, da sie durch Erlebnisse nachvollziehbar sind und höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügen.

Den Mittelpunkt des Dharma bildet die Suche nach Möglichkeiten, Leid zu überwinden – vor allem die Angst vor Altern, Krankheit und Tod und den Zweifeln am eigenen Wesen. Dieses Vorhaben wird traditionell in „Vier Wahrheiten“ zusammengefasst, die heutzutage oft als „Vier Aufgaben“ bezeichnet werden:

  1. Leiden betrachten.
  2. Dessen Ursachen erkennen.
  3. Deren Ende einleiten.
  4. Diesen Prozess verwirklichen.

Für diese Anliegen hat Buddha auf acht Bereiche hingewiesen, in denen jeder Mensch seine geistigen und körperlichen Begabungen auf das ganze Leben und das Leben als Ganzes anwenden und Leid überwinden kann: Ansichten, Absichten, Sprache, Handlungen, Lebensgestaltung, Bemühung, Achtsamkeit und Sammlung.

Auf all diesen Wegen lässt sich die Essenz des Buddha-Dharma immer wieder bestätigen: Die Welt wandelt sich ständig (1.); sie zeichnet sich durch eine uneingeschränkte Verbundenheit aus (2.); und sie ermöglicht Glück und einen friedvollen Geist (3.).

  1. Alles Seiende definiert sich durch die Eigenschaft, unbeständig zu sein – vom Buddha mit dem Begriff „Anitya“ ausgedrückt. Wandel und Bewegung sind Voraussetzungen jeglichen Geschehens. Stillstand und Statik gibt es weder im Makro- noch im Mikrokosmos. Ohne Veränderungen und Entwicklungen hätte sich weder die Erde noch Leben auf ihr bilden können. Ohne Wandlungsprozesse wird aus einem Kirschkern kein Baum und aus einem Baby keine erwachsene Frau.
  2. Alle Vorgänge geschehen in einem umfassenden Zusammenspiel von Raum, Zeit, Materie und Energie. Kein Sandkorn kann aus sich selbst heraus entstehen oder für sich allein bestehen – ein Mensch schon gar nicht. Der Buddha suchte vergeblich nach „Eigenständigkeit“ bzw. einem „eigenständigen Selbst“ (Atman). Dieses Ergebnis nannte er „Nicht-Selbst“ (Anatman) und folgerte daraus: Gegenseitige Abhängigkeit bzw. wechselseitiges Durchdrungensein ist – genau wie Wandel – ein universelles Merkmal des Daseins. Alles ist voneinander abhängig und räumlich und zeitlich miteinander verbunden.
  3. Für einen Buddha ist es selbstverständlich, Unbeständigkeit und Verbundenheit tief zu verstehen. Dieses „Erwachen“ aus gegenteiligen Vorstellungen führt zu einer inneren Befreiung und zu einem von Klarheit, Nicht-Angst und Offenheit geprägten und im „Grund des Seins“ (Nirvana) ruhenden Geist.

Mit anderen Worten: Buddha hat nach Befreiung von Leid gesucht und entdeckt, dass die Wirklichkeit aller Dinge letztlich ohne „Selbst“ ist, sondern leer, frei und beziehungsreich. Die „Leerheit“ aller Erscheinungen (Shunyata) bedeutet nicht, dass Dinge oder Erscheinungen nicht existieren, sondern dass alles Seiende etwas Zusammengesetztes ohne einen selbständigen, dauerhaften Wesenskern („Seele“) ist. Die auf direkter Erfahrung beruhende Erkenntnis der „Selbstlosigkeit“ befreite Buddha von diesem Konstrukt und dem daraus resultierenden Leid. Er war nicht mehr gefangen in der Dualität. Er konnte sich schöpferisch auf den Beziehungsreichtum des Lebens einlassen und zum Wohle aller Wesen wirken.

Auf vier weitere Aspekte des Dharma möchte ich vor meinem Essay hinweisen:

  1. In der zweiten der vier Wahrheiten bzw. Aufgaben werden die Ursachen von Leid traditionell mit Gier, Hass und Verblendung bzw. Verlangen, Abneigung und Täuschung angegeben. Diese individuellen Handlungs-Motive lassen sich in der Struktur und der Funktionsweise der gegenwärtigen ökonomischen Verhältnisse wiederfinden.
  2. Zwar lässt sich die Lehre des Buddha mit Konzepten füllen und in eine Religion verwandeln, doch ihr Mittelpunkt bleibt die eigene Erfahrung. Als eine weltzugewandte Seinslehre kann sie deshalb säkulare Grundlage einer Ethik für das 21. Jahrhundert sein.
  3. Die Praktiken des Dharma (Anhalten, Innenschau, Mitgefühl, Gleichmut usw.) sind für alle Menschen geeignet. Die im Dharma versammelten inhaltlichen Einsichten eignen sich insbesondere für atheistisch, agnostisch und humanistisch orientierte Menschen.
  4. Indem der Nachvollzug der Lehre des Buddha eine individuelle Angelegenheit ist, gibt es im Prinzip ebenso viele Dharma-Interpretationen wie Menschen auf der Erde. Meine ist Eine.

(*) Erarbeitet aus:

  • Stephen Batchelor: Jenseits des Buddhismus; Berlin 2017
  • Kamalashila-Institut (Intro zum Jahresprogramm 2005)
  • Dalai Lama (mit Franz Alt): Ethik ist wichtiger als Religion; Wals 2015
  • Thich Nhat Hanh: Das Herz von Buddhas Lehre; Freiburg 1999

Dieser Text entstand Ende 02019 als Vorbereitung auf die Formulierung der Vorbemerkung für den Textteil „Buddhistische Motive für eine Überwindung der Gier-Wirtschaft“ im Buch „All you need is less“ (gemeinsam mit Niko Paech 02020 im oekom verlag erschienen).


7. Die Peitsche der Gierwirtschaft

‘Intersein‘ und ‘engagierter Buddhismus‘ sind Begriffe, mit denen Buddhistinnen und Buddhisten die Vernetzung alles Lebenden und eine verantwortungsvolle Haltung der Welt gegenüber umschreiben. Aus dieser Sicht hier ein leidenschaftliches Plädoyer für die Beendigung selbstmörderischer Verblendung und das Schaffen der überlebensnotwendigen neuen Weltsicht.

Auch wenn das Dharma1 zu Recht gern als älteste psychologische Lehre der Menschheit bezeichnet wird und bei oberflächlicher Betrachtung sich mehr um die individuelle Befreiung denn um gesellschaftliche Veränderungen zu bemühen scheint, so wird dieser Eindruck schon korrigiert, wenn der Buddhismus eher als eine Philosophie denn als eine Religion gesehen wird. Wer bis zu Buddhas eigenen Worten zurückgeht, wird feststellen, daß der Buddha ursprünglich von ‘Leiden‘ (‘Es gibt Leiden‘) und nicht von ‘deinem Leiden‘ oder ‘meinem Leiden‘ sprach und somit von Beginn an über eine Personalisierung seiner Erlösungslehre hinausging2.

Die sozialen, gesellschafts- und wirtschaftsbezogenen Aspekte des Buddhismus lassen sich besonders anschaulich in den fünf Silas und den Gliedern drei bis fünf des Achtfachen Pfades (Vollkommene Rede, Vollkommenes Handeln, Vollkommener Lebenserwerb) finden. Sie bestätigen nicht nur die untrennbare Verflechtung von Innen- und Außenwelt, sondern verdeutlichen auch die Grundlage der Arbeit des ‘International Network of Engaged Buddhists‘ und des ‘Netzwerkes engagierter Buddhisten‘. Zwar ist jeder Buddhismus engagierter Buddhismus, aber es ist darauf hinzuweisen, daß „engagierter Buddhismus nicht nur bedeutet, den Buddhismus zu benutzen, um soziale und politische Probleme zu lösen. Zuallererst müssen wir den Buddhismus in unser tägliches Leben bringen“3.

Alle Menschen zeichnen sich durch Eigenschaften aus, die der Buddha in der zweiten der Vier Wahrheiten ‘auf den Punkt‘ gebracht hat; Eigenschaften, die zur Natur des Menschen gehören, meist als Gier, Haß und Unwissenheit zusammengefaßt und als Ursache von Leiden identifiziert werden. Sie zu überwinden, sich von ihnen zu befreien, über sie hinauszuwachsen – das ist die eigentliche Lebensaufgabe suchender Menschen, das ist das Lebensziel praktizierender Buddhistinnen und Buddhisten.

Das Dharma und die Gierwirtschaft

Der Buddha hat die Vier Wahrheiten auf das Leben des einzelnen Menschen bezogen und ihm einen Weg aus dem Leidenskreislauf eröffnet. Er hat sicherlich gewußt, daß die Menschen noch für lange Zeit vom Durst nach Haben und Sein beherrscht werden. Ob er allerdings geahnt hat, daß rund 2.500 Jahre nach Entstehung seiner Lehre die Menschen ihre zentrale Eigenschaft ‘Gier‘ nicht nur beibehalten, pflegen und vervollkommnen, sondern auch eine Gesellschaftsform entwickeln würden, die ebenfalls dieses Grundprinzip in ihrem Mittelpunkt weiß, darf allerdings bezweifelt werden.

Heutzutage gilt nämlich das Erlangen von Besitz, Prestige und Macht nicht nur auf individueller Ebene als Lebensziel, sondern das Streben nach Profit ist zur Haupttriebkraft der Gesellschaft insgesamt erklärt und entwickelt worden. Die Ideologie des ‘Immer-Mehr‘ als Sucht nach Gewinn, Zwang zur Rendite und Unbedingtheit der Steigerung des Sozialproduktes ist zur Zeit dermaßen stark in den Köpfen der Menschheit verankert, daß sie zur unhinterfragbaren Richtlinie, ja zum Grundgesetz aller Völker und Nationen dieser Erde geworden ist. Dieses Phänomen ist durch den Zusammenbruch des sozialistischen, also des kollektiven Gewinnerwirtschaftungssystems noch deutlicher geworden.

Kurz gesagt: Die Menschheit lebt innen wie außen im Zustand des Vorrangs der Gier bzw. des Gewinnstrebens. Die Menschen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten ein gesellschaftliches System geschaffen, das ihrer inneren Natur entspricht. Das individuelle Begehren, alles besitzen und das Dasein ergreifen und festhalten zu wollen, geht Hand in Hand mit einem sozialen Umfeld, das möglichst vielen Menschen helfen möchte, diesen Durst nach Haben und Sein möglichst kräftig und vorbehaltlos auszuleben. Der innerlich giersüchtig strebende Mensch lebt äußerlich in einer zwanghaft profitgierigen Gesellschaft, in einer Gierwirtschaft.

Deshalb ist es keineswegs abwegig, die Vier Wahrheiten auf die von der Gierwirtschaft geprägte Jetztzeit-Zivilisation zu übertragen und analog zur Ersten und Zweiten Wahrheit festzustellen: Wenn entsprechend der Lehre des Budhha die Beständigkeit als Maßstab von Glück angesehen wird und es also die Erde zu erhalten gilt, dann ist zu konstatieren, daß die Erde leidet, und zwar unter dem gesamtgesellschaftlich durchgesetzten Diktat des Profitprinzips, das Ausdruck ist für die offensichtlich unabänderliche Gier ihrer Bewohnerinnen und Bewohner, ihren tiefverwurzelten und in verschiedensten Formen ausgetragenen Haß untereinander (der ja nur die Kehrseite der Gier darstellt, denn Neid, Trennung und Vereinzelung sind ursächlich mit dem Wunsch nach egoistischem Festhalten verknüpft) sowie einer scheinbaren Unwissenheit, die eher als Verblendung bezeichnet werden muß. ‘Scheinbar‘ deshalb, weil die Bedrohung der Lebensgrundlagen der Menschheit immer offener sichtbar und spürbar wird. Eigentlich wissen fast alle Menschen über den stetig desolater werdenden Zustand ihrer Um- und Mitwelt Bescheid und könn(t)en sich ausrechnen, was bei einer Beibehaltung der ‘Immer-Mehr-Ideologie‘ auf sie und ihre Nachkommen zukommt; sei es im ökologischen (Klima, Wasser, Boden, Arten, Ressourcen, Müll etc.) oder sozialen Bereich (Überbevölkerung, Nahrungsmangel, Armut, Vereinzelung und Nicht-Arbeit in einer 20:80-Gesellschaft, weil im kommenden Jahrhundert rund ein Fünftel der arbeitsfähigen Bevölkerung ausreichen werden, um die Weltwirtschaft in Schwung zu halten).

Der Verblendungscharakter der menschlichen Unwissenheiten wird noch deutlicher, wenn es um eine Gesamtschau des Ist-Zustandes geht. Während die ‘Ober-Gierschlünde‘ weiterhin den Zusammenbruch des Sozialismus bejubeln und noch gar nicht gemerkt haben, welche Kröte sie mit der globalen Ausdehnung der Gierwirtschaft geschluckt haben, sprechen Fatalisten vom Zeitalter der fossilen Brennstoffe, das vor gut 100 Jahren begann und in 100 Jahren untergehen wird. Andere rücken immer noch den Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital in den Mittelpunkt ihrer Gesellschaftsanalyse, obwohl diese beiden Parteien im gleichen Boot sitzen und sich lediglich um die Früchte ihrer gemeinsamen Gier streiten. Der Hunger nach spiritueller bzw. ganzheitlicher Gesundheit wird zwar immer häufiger geäußert, aber er wird in der Regel sofort (gier-) wirtschaftlich verwurstet, also von der Jagd nach Geld und den Profilierungsintrigen der Konkurrenz in eine Form gepreßt, die nur noch selten mit den Inhalten übereinstimmt.

Darüber hinaus werden die lähmenden Aspekte der übertriebenen individuellen Entfaltungs- und Selbstverwirklichungswünsche (Isolation, ‘Ende der Familie‘, Egoismus, Unfähigkeit zur Gemeinschaft usw.) vollkommen unterschätzt. Letztlich ist die Bevorzugung der materiell-individuellen Aspekte des Lebens Ausdruck tierisch-triebhafter Eigenschaften: Der Sieg des Unreflektiert-Gierigen beweist, daß der heute lebende, angeblich so moderne und aufgeklärte Mensch auf dem Weg der Entwicklung vom Affen zum ‘wirklichen‘ Menschen erst die halbe Strecke zurückgelegt hat.

Alle diese Einschätzungen und Haltungen betrachten die Gefährdung der menschlichen Zukunft des Menschen nicht tief genug, denn sie rütteln nicht am Grundsatz, die Lebensmöglichkeiten der Menschen letztlich in einem Kampf gegen die Natur zu erreichen, der durch das ungehemmte Ausleben der (materiellen) Gier erfolgt und nicht in einem durch Vernunft, Harmonie und Mitgefühl geprägten Prozeß des Miteinanders von Mensch und Welt geführt wird. Als Voraussetzung für die Aussicht auf eine Lösung muß jeder einzelne Mensch die Ursachen des Leidens durchdringen und sie sowohl auf sich als auch auf die Menschheit als Ganzes beziehen, also im gefühlsmäßigen Sinne wissen und spüren, daß die Gattung Mensch gefährdet ist.

Der Gier ein Ende

Um es noch einmal deutlich zu machen: Die Anwendung der Zeiten Wahrheit von den Ursachen des Leidens auf die Natur der Erde schafft eine Brücke des Verstehens zum einzelnen Menschen, denn beide (Natur & Mensch) leiden unter den Folgen des ungebremsten Profitstrebens (inklusive solcher Zwangsmittel wie Zinsknechtschaft, Schuldenfalle, Zukunftsverpfändung usw.), unter den Haß und Vereinzelung erzeugenden Konkurrenz- und Wettbewerbskämpfen einer einseitig leistungsorientierten Ellbogengesellschaft und unter einer ausgeuferten Informationsmaschinerie, die die Hirne der Menschen trotz eines hohen Bildungsniveaus systematisch vernebelt, indem sie permanent Wünsche erzeugt, eine Dauerberieselung aus konstruierten Intrigen und oft brutalen Auseinandersetzungen inszeniert und den Fluß der Geschehnisse in 20-Sekunden-Sequenzen verhackstückt.

Durch die modernen Medien gelangt nicht nur die Ideologie des ‘Immer-Mehr‘ erdweit in die Hirne der Menschen. Die Peitschen des Zeitgeistes, bestehend aus Reichtum, Individualismus und Informationsvervielfachung sollen darüber hinaus verdeutlichen, daß es keine Alternative zu diesem Zivilisationsmodell gibt und der Erdbevölkerung nun der Schritt in die sogenannte Informationsgesellschaft bevorsteht. Dabei erweist sich die unhinterfragte Wertschätzung der Informationsfülle als besonders bösartige Peitsche, denn sie suggeriert, daß die Menschheit wissensmäßig vorankommt. In Wahrheit vernebelt die steigende Menge an Zahlen, Daten und Fakten den Blick auf das Wesentliche und trägt zur Verblendung bei, denn sie erschwert das Erkennen dessen, was wichtig und richtig ist. Systematisch fehlgeleitet orientieren sich die meisten Menschen an ihren leidhaften Eigenschaften Begehren, Bewerten, Vereinzeln und Verdrängen.

Mit der Dritten Wahrheit von der Aufhebung des Leidens gerät nun die Forderung nach einer Beseitigung der Ursachen ins Blickfeld: die Abschaffung des Gier-Gewinn-Profit-Prinzips (inkl. seiner negativen Aspekte Haß, Trennung und Konkurrenz). Auch hier bleiben die Verursachenden im Mittelpunkt, also die einzelnen Menschen, die mit der Kraft ihrer Triebe und der Energie ihres Wollens und Handelns am Auf- und Ausbau dieser ‘globalen Kultur‘ mitschaffen und die selbstverständlich auch am Auf- und Ausbau jeglicher Zukunft (also auch einer ‘neuen Kultur‘) mitbeteiligt sind.

Für diese Aufgabe hat der Buddha in seiner Vierten Wahrheit ein acht gleichwertige Bereiche umfassendes Handlungskonzept erarbeitet. Ohne die Radikalität der Forderung ‘Weg mit der Gier‘ zu schmälern, läßt sich der Achtfache Pfad als ‘Mittlerer Weg‘ definieren, der nichts Unmögliches verlangt, aber gleichzeitig Tore zum inneren Wachstum (Erwachung und Befreiung) eröffnet, heilende Hinwendung ermöglicht und damit zum inneren und äußeren Frieden hinführt.

Natürlich haben die Glieder drei bis fünf in diesem Zusammenhang den höchsten Stellenwert, denn sie beinhalten die nach außen wirkende, die gesellschaftlich wirksame Praxis, doch ohne ein Training des Geistes (Glied 6: Vollkommene Anstrengung; Glied 7: Vollkommene Achtsamkeit; Glied 8: Vollkommene Sammlung) würde diese Handlungsweise Tiefe, Stetigkeit und innere Stärke verlieren, und ohne einen Vollkommenen Entschluß (Glied 2) würde alles Wissen, Üben und Beabsichtigen in den Anfängen steckenbleiben.

Besondere Bedeutung kommt dem ersten Glied des Pfades zu, der Vollkommenen Erkenntnis. Immer mehr Menschen sehen zwar den westlichen (aber im Osten heutzutage genauso populären) Lebensstil als verantwortungslos an und ein soziales und ökologisches Desaster näherrücken, können ihre vorsichtigen Verhaltensänderungen jedoch nur auf Angst, moralischen Appellen und als Verzicht empfundenen Vorschriften aufbauen. Ihnen fehlt eine ‘Hintergrund-Philosophie‘, eine umfassende Weltbeschreibung, ein tiefgehender Begründungszusammenhang für einen Lebensstil, der durch Behutsamkeit, Entschleunigung, Anteilnahme, Verständnis und ein ‘Erdbürger- und Erdbürgerinnenbewußtsein‘ geprägt ist.

Dharma und ökologisches Weltbild

Die Lehre des Buddha, das Dharma, eignet sich vorzüglich als geistige Grundlage für ein von Rationalität, Gemeinsamkeit, Angstfreiheit und Friedenswille getragenes ökologisch orientiertes Weltbild, in dem Philosophie und Herzensgüte, Wissenschaft und menschliches Maß sowie Vernunft und Spiritualität miteinander verschmolzen sind. In den Vier Wahrheiten werden Wirtschaft, Gesellschaft und Individuum präzise analysiert. Die Drei Merkmal (Trilakshana: Vergänglichkeit, Leidhaftigkeit; Nicht-Selbstheit) weisen auf die Wandlungsfähigkeit und das wechselseitige Durchdrungensein (Intersein) des Daseins hin, verknüpfen auf tiefer Ebene die innere und äußere Ökologie und schaffen somit eine stabile Basis für eine auf Hoffnung, Offenheit und Wahrhaftigkeit beruhende Perspektive, ein von Anteilnahme und Mitgefühl getragenes Handeln und eine um Einsicht und inneren Frieden bemühte heilende Hinwendung sowohl auf individueller wie auch auf gesellschaftlicher Ebene. Der vom Buddha immer wieder hergeleitete ‘Mittlere Weg‘ schließlich zeigt nicht nur auf, wann ‘genug genug ist‘, sondern wettschätzt gleichzeitig die Errungenschaften und Erfolge der Neuzeit, als da sind Wissenschaft, Technik, Wohlbefindlichkeit und Wohlstand, ohne Werte wie geistiges Wachstum, Gleichrangigkeit, Genügsamkeit und Liebe geringzuschätzen.

Zusammenfassend sei noch einmal hervorgehoben: Bei der Anwendung der Vier Wahrheiten auf die Gesellschaft und der Herausarbeitung der ‘Peitschen der Gierwirtschaft‘ ist keinerlei Form von Schuldzuweisung (Motto: ‘Die Gesellschaft ist an allem Schuld‘) beabsichtig. Es geht überhaupt nicht um Schuld, sondern um eine Beschreibung des gesamtgesellschaftlichen Ist-Zustandes zum Ausgang eines Menschheitsjahrtausends, um bei der eigenen Praxis im Alltag, bei der Achtsamkeit im gegenwärtigen Augenblick, beim privaten und öffentlichen Handeln usw. immer auch die Gesellschaft mit im Blick zu haben. Das Auffinden eines gangbaren ‘Mittleren Weges‘ ist heutzutage nicht leicht angesichts einer überwältigenden Außenorientierung, die in ihrer rasanten Vielfalt und oberflächlichen Buntheit die Sicht auf die Wirklichkeit eher verstellt als erhellt.

Deshalb soll noch einmal auf die Glieder 3 bis 5 des Achtfachen Pfades und hier besonders auf die Bewachung der Sinnestore hingewiesen werden. Wer ohne Achtsamkeit alle Eindrücke ungefiltert in sich hineinläßt, wird sich er- und unterdrückt fühlen und schließlich weder wissen noch kontrollieren können, was aus ihm oder ihr herauskommt – wie sie redet, wie er handelt, wie sie ihr Leben er- und begreifen. Eine Haltung der Achtsamkeit ermöglicht nicht nur, von den Peitschen der Gierwirtschaft seltener und weniger stark getroffen zu werden, sondern erhöht gleichzeitig die Chancen, ein ‘richtiges Leben im falschen‘ zu führen und die verlorengegangene Integrität wiederzufinden, also aufrecht, wach, vertrauensvoll und mutig das Dasein als ganzer Mensch im Fluß der Raumzeitwege zu verwirklichen.

Um zu zeigen, wie stark die Verschmelzung des einzelnen Menschen mit seiner Mitwelt in der Lehre des Buddha verankert ist, seien abschließend die vier Bodhisattva-Gelübde zitiert4: Zahllos sind die Lebewesen, ich werde nicht ruhen, bevor sie alle frei sind. Zahllos sind die Bindungen, ich werde nicht ruhen, bis ich sie alle gelöst habe. Zahllos sind die Dharma-Worte, ich werde nicht ruhen, bis ich sie alle verstanden habe. Zu leben wie ein Buddha ist unsagbar schwer, ich werde nicht ruhen, bis ich es gelernt habe.

1 Die deutschsprachige Intersein-Sangha (also die Mitglieder des von Thich Nhat Hanh gegründeten Tiep-Hien-Ordens, dem der Autor angehört) bevorzugt die Sprachregelung ‘der Buddha, das Dharma, die Sangha‘.

2 vergleiche auch Santikaro Bhikkhu in seinem Aufsatz ‘Möglichkeiten eines Dhamma-Sozialismus‘ im Studienheft ‘Wege zu einer gerechten Gesellschaft – Beiträge engagierter Buddhisten zu einer internationalen Debatte‘. Dieses Heft kann kostenlos beim Evangelischen Missionswerk, Normannenweg 17-21, 20537 Hamburg bestellt werden.

3 Thich Nhat Hanh: Innerer Friede – Äußerer Friede, Zürich 1987, S. 57

4 Judith Bossert & Adelheid Meutes-Wilsing: Zen für jeden Tag, München 1994, S. 49

Dieser Text erschien 01996 in der Zeitschrift „Lotosblätter“ (Vorläuferin der Zeitschrift „Buddhismus aktuell“). Herausgeberin: „Deutsche Buddhistischen Union“.


8. Motive für meine Mitarbeit in der DBU

Der Buddha ist mein ältester spiritueller Freund. Die erste Begegnung mit ihm ergab sich im 3. Schuljahr durch mein erstes selbst gelesenes Buch (Hanna Stephan: Weltreise wider Willen). Lange Asienreisen und Kontakte zu vielen Lehrenden führten zu weiteren Annäherungen. Und je länger ich wahr nehme, wie sich das Leben in mir wahr nimmt, desto sicherer bin ich mir, dass Buddha mich schon vor 2 ½ Tausend Jahren verstanden hat. Es beruhigt und motiviert mich, bei der Betrachtung der Welt zu ähnlichen oder sogar den gleichen Einsichten zu gelangen wie er.

Die Essenz von Buddhas Lehre (dharma) erreicht mich dauerhaft, weil sie frei von Dogmen ist und (m)einer kritischen Überprüfung standhält. Indem die Dharma-Praxis mich in die Gegenwart verankert, erfahre ich diese Erde (und das Leben auf ihr) vollständig als mein Zuhause und kann mich um sie kümmern.

Die Haltung „samtusta“ unterstützt mich dabei. Sie wird mit „vollkommen befriedigt“ übersetzt und im Aryavamsa-Sutra als „Gefallen finden am Bewirken“ beschrieben, was darauf hinweist, dass schon damals neben Vernunft, Achtsamkeit, Zufriedenheit usw. auch Engagement zu den Grundlagen einer integeren Lebensgestaltung gehörte.

Die Einstellung „Samtusta“ versuche ich umzusetzen – in meiner Familie, als Dozent für Taijiquan und Qigong, in Vorträgen über „Resilienz“ und „Postwachstum“, im Verein „Achtsamkeit in Oldenburg“, als Autor oder als von Thich Nhat Hanh ernannter Dharma-Lehrer (Chan Dai Dong).

Und seit 2009 als Mitglied des DBU-Rates. Hier bringe ich mich v.a. in der AG Umwelt, bei der Vorbereitung von Kongressen, in der Öffentlichkeitsarbeit und durch Kontakte mit anderen Verbänden ein. Nach drei Rats-Perioden habe ich drei Wünsche:

  1. Die DBU braucht eine professionelle Geschäftsführung, denn die auf ehrenamtlicher Basis leistbare Arbeit ist zu unstet.
  2. Zwar ist der Buddha mittlerweile in Deutschland angekommen, seine Lehre jedoch noch nicht. Viele Menschen stimmen mit der Essenz des Dharma überein, bringen dies aber nicht mit dem Buddha in Verbindung. Zentrales Anliegen eines Dachverbandes sollte es sein, diese Lücke zu schließen.
  3. Weil die in verschiedenen asiatischen Kulturen entstandenen Interpretationen des Dharma zu oft im Vordergrund bleiben, wird zu selten direkt auf den Buddha zurück gegriffen. An der Entwicklung einer dem 21. Jahrhundert entsprechenden säkularen und integralen Ausformung und Anwendung des Dharma würde ich mich gern beteiligen. Vielleicht gründet sich ja bald eine AG zu diesem Thema …

Dieser Text wurde im Magazin der Zeitschrift „Buddhismus aktuell“ (Heft 4/02017) unter dem Titel „Die Räte der DBU stellen sich vor) veröffentlicht.


Eine Null als Glocke der Achtsamkeit

Zweitausendzwölf … schon sind wir wieder mitten drin in einem weiteren Jahr. Thich Nhat Hanh wird im Herbst 86 Jahre alt, der Maya-Kalender macht einen Sprung und in Deutschland erleben wir seit 67 Jahren friedliche Zeiten.

2012 … gerne schauen wir auf diese vielen Jahre zurück. Was ist nicht alles geschehen seit dem Beginn unserer Zeitrechnung! Die Vergangenheit ist unsere Geschichte. Sie enthält alles, was wir geworden sind. Das sollten wir niemals vergessen.

2012 … eine Ziffer, die dazu anregt, zurück zu schauen. Sich zu fragen, wann das Zählen anfing. Aber blicken wir auch genauso gern so weit nach vorn? Wie oft versetzen wir uns 2012 Jahre in die Zukunft?

Es gibt einen kleinen Trick, dies zu tun. Mit einer Null. Wenn wir sie vor die übliche Jahreszahl setzen, werden wir aufmerksamer. Wir stolpern über diese Null. Sie weist uns darauf hin, dass wir erst am Anfang sind. Dass wir erst starten. In die Zukunft. Zum Beispiel ins Jahr 04024.

Die Zukunft liegt in und vor uns. Wir können sie in jedem Augenblick berühren. Mehr noch: Wir sind heute für sie verantwortlich, denn wir gestalten sie mit. Wir stellen die Weichen für die Zukunft – so wie unsere Vorfahren die Weichen für unsere Gegenwart gestellt haben. Die Gegenwart ist die Vergangenheit der Zukunft.

Die Menschheit stellt heutzutage sehr viele Weichen. Nicht wenige davon werden sich schon bald sehr unheilsam auswirken. Dieses Manko wird von immer mehr Menschen erkannt. Einige von ihnen versuchen, ihr Bewusstsein für die Zukunft zu schärfen. So wurde im Jahr 01998 in Erlangen eine „Zivilisations-Uhr“ errichtet, die der Kalligraph Kazuaki Tanahashi entworfen hat. Ihr Zeiger zeigte in der 12-Uhr-Position auf das Jahr 02000. Jede Stunde der Uhr stellt 2000 Jahre dar, so dass ihr Zeiger in 10000 Jahren die 5-Uhr-Position erreicht.

Die 01996 von Danny Hillis (Erfinder der Parallellogik der modernen Supercomputer) gegründete Long-Now-Foundation verfolgt eine ähnliche Idee. Hillis baute als Sinnbild für langfristiges Denken eine rein mechanische Uhr, die mindestens 10.000 Jahre ticken soll. Um für den Deka-Milleniums-Wechsel gerüstet zu sein, der uns in etwa 8.000 Jahren bevorsteht, verwendet die Langes-Jetzt-Stiftung fünfstellige Jahreszahlen mit einer zusätzlichen Null.

Auch in der Sankt-Buchardi-Kirche in Halberstadt ist es möglich, sich mit einer fernen Zeit zu verbinden. Auf der dortigen im Jahr 01361 gebauten ersten Großorgel der Welt wird seit 02000 das Stück „so langsam wie möglich“ des Musikers John Cage gespielt, das sich erst im Jahr 02639 vervollständigt. Der bisher letzte Klangwechsel fand am 5. August 02011 statt; der nächste wird am 5. Juli 02012 sein.

In jedem Brief, im Terminplaner, in meinem Tagebuch – eine kleine Null im Datum erinnert mich an etwas, was Astronomen schon seit Langem wissen: Es liegt wesentlich mehr Zeit vor als hinter uns. Auch wenn ich diese lange Zukunft nicht persönlich erleben werde – sie mir vorstellen und sie achten kann ich jederzeit. Zum Beispiel mit Hilfe einer Null.

Dieser Text wurde in der „Intersein – Zeitschrift für achtsames Leben in der Dhyana-Tradition von Thich Nhat Hanh“ (Nr. 39; Mai 02012) veröffentlicht.