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Der folgende Text enthält einen Vortrag, den ich am Fr 24.10.02025 im Bhavana Vihara (Riethausen, bei Bruchhausen-Vilsen) hielt. Er wurde in ähnlichen Fassungen in der Zeitschrift ‘Buddhismus aktuell‘ (2/25), im Magazin ‘Achtsames Leben‘ (Oldenburg) und im Info ‘Achtsamkeit in Oldenburg‘ (9-12/25) veröffentlicht.

Verbundenheit ist aller Freude Anfang

Buddhistische Anregungen für eine enkeltaugliche Kultur des Genug

Vor 20 Jahren hat der Philosoph Peter Sloterdijk die Lage der Menschheit drastisch veranschaulicht: „Wir rasen mit Höchstgeschwindigkeit frontal auf eine Betonmauer zu, doch weil der Moment des Aufpralls eine Weile entfernt ist, bleibt man auf dem Gaspedal“1. Thomas Metzinger – ebenfalls Philosoph – fragte sich kürzlich, ob „wir vielleicht doch noch rechtzeitig eine neue Art zu leben entwickeln, die es uns ermöglicht, das giergetriebene Wachstumsmodell zu verlassen“, bevor er hinzufügte: „Was uns fehlt, ist ein neues Leitbild, ein kultureller Kontext für die sich beschleunigende planetare Krise“2.
Mit Elementen fernöstlicher Weltsichten ist eine solche Perspektive vorstellbar.
So bieten sich 4 Aspekte der Buddha-Lehre als Basis einer nachhaltig zukunftsfähigen, also enkeltauglichen Lebensweise an:

  1. Hier sein.
  2. Ganz sein.
  3. Wach sein.
  4. Zufrieden sein.

Hier sein
Es ist ein wunderbares Erlebnis, als menschliches Wesen auf dieser Erde zu Hause zu sein; vor allem, weil wir diese Anwesenheit bewusst genießen können. Es sollte zum Selbstverständnis jedes Menschen gehören, sich darüber zu freuen und das Dasein wertzuschätzen.
Dennoch gibt es einige Gründe, mit der eigenen Existenz zu hadern: Zu kurze Dauer, zu viele Krankheiten, dann auch noch altern und schließlich sterben. Große Teile der buddhistischen Praxis widmen sich der Aufgabe, die leidhaften Umstände des Lebens geistig zu bewältigen.
Den Zeitpunkt und den Ort aller menschlichen Aktivitäten hat der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh exakt lokalisiert: „Unsere Verabredung mit dem Leben findet immer im gegenwärtigen Augenblick statt. Und der Treffpunkt unserer Verabredung ist immer genau da, wo wir uns gerade befinden“3.
Präsent sein – dieses wissende Gefühl kann erfreuen, ist jedoch derzeit erheblich getrübt. Viele Menschen scheuen einen offenen Blick in die Gegenwart und in die Zukunft, obwohl – oder gerade weil – sie präzise berechnen können, wie sehr sie ihnen – Beiden – zusetzen. Im Umgang mit der Umwelt werden schädlich wirkende Vorgaben verfolgt. Kollektiv fehlgeleitet verwenden wir unsere Kraft, um auf einem Weg voranzueilen, der uns in die Irre führt.
Es ist immer alles jetzt. Auch Zukunft ‚existiert‘ ausschließlich im gegenwärtigen Moment – als Gedanken und Annahmen im Geist der Menschen. Nur sie können sich spätere Zustände vorstellen und anstreben, was sie derzeit auf ruinöse Weise tun. Dabei möchten sie sich eigentlich bemühen, ihren Nachkommen eine l(i)ebenswerte Welt zu hinterlassen.
Diesen Widerspruch sollten wir uns deutlich vor Augen führen. Nur mit Ehrlichkeit lässt sich das kulturelle Dilemma, in dem die Menschheit steckt, sinnvoll betrachten. Erst eine unvoreingenommene Suche nach Hintergründen entdeckt Wege, die aus der Sackgasse führen. Erst durch das Eingestehen und Vermeiden bisheriger Fehler wird sich unser Leben in eine heilsame Richtung entwickeln. Dies kann nur hier und jetzt geschehen.

Ganz sein
Für die Verwirklichung dieser Absicht bieten sich Einsichten an, die zu Buddhas Zeiten revolutionär wirkten und sich heutzutage nicht nur für humanistisch, atheistisch oder agnostisch eingestellte Menschen eignen. Einige asiatische Weisheitslehren kamen nämlich schon damals ohne Spekulationen über überweltliche ‚Wesen‘ und ohne eine unvergängliche ‚Seele‘ aus. Auch der Buddha hat vergeblich nach einem ‚separaten Selbst‘ (Atman) gesucht. Er ging davon aus, dass dieses Phänomen nur als Konzept im menschlichen Geist erscheint.
Die Auffassung ‚Alles ist ohne eigenständiges Selbst‘ lässt sich sowohl als Befreiung von Einbildungen als auch als universelles Merkmal erleben. Was nicht eigenständig bestehen kann, befindet sich ständig in wechselseitiger Beziehung zu allem anderen. Alle Dinge und Wesen nehmen ununterbrochen und ungetrennt an der Fülle des Seins teil.
Verbundenheit ist ein stabiles Fundament für Solidarität, Kooperation und Verantwortung. Leider wird unser Alltag von einem Hyper-Individualismus bestimmt, der aus Selbstüberhöhung, Vereinzelung und Wunschdenken entsteht. Diese innere Einstellung trennt uns voneinander und entfremdet uns von der Umwelt.
Das Wissen um unsere prinzipielle Integration ins Raumzeitgeschehen befreit uns jedoch von Gefühlen wie Isolation und Einsamkeit und fördert die Begeisterung, auf dieser Erde willkommen zu sein. Ganzheit und gegenseitiges Durchdrungen-Sein verknüpfen uns mit den Naturgesetzen – räumlich bis zur Quantenphysik und zur Thermodynamik; zeitlich bis zum Urknall.
Indem diese umfassende Zusammengehörigkeit als notwendig anerkannt und als beruhigend empfunden wird, bildet sie den Ursprung unseres Handelns. Verbindung und Verbundenheit sind dann aller Freude Anfang. Statt Neigungen wie Selbstbezogenheit, Abgrenzung und Oberflächlichkeit zu folgen, können wir uns für den Auf- und Ausbau einer Gesellschaft einsetzen, die Wohlsein für alle anstrebt und dabei spätere Generationen einbezieht.
Für diese Umpolung hat jeder Mensch alle eingeübten Gewohnheiten zu hinterfragen und eine neuartige Spontanität mit Inhalt zu füllen. Um bislang von Eigensinn und Ablenkung ausgehende Impulse wie Festhalten, Missgunst und Verdrängung in Richtung Mitgefühl, Offenheit, Verständigung und Hilfsbereitschaft zu lenken, bedarf es einer Umwandlung vieler erlernter Reaktions-Muster. Diese Praxis erfordert zwar Mut und Ausdauer, doch ein Erfolg lässt sich als Kür-Programm des Lebens erfahren und kultivieren.

Wach sein
Diese Kür verfeinert sich durch die einzigartige Fähigkeit aller Menschen, sich als Person bewusst zu sein – und dies auch zu wissen. Bewusste Bewusstheit geschieht in einem Wechselspiel, das sich mit den Blickwinkeln „Der Mensch nimmt das Leben in sich wahr“ und „Im Menschen nimmt sich das Leben wahr“ veranschaulichen lässt.
Die Anwendung der einzigartigen Begabung zur Selbst-Bewusstheit beflügelt eine Kompetenz, die ‚wach sein‘ genannt wird. In ihrer Anwendung wird sie Verbundenheit erkennen, ernst nehmen, für erstrebenswert halten und dauerhaft umsetzen wollen.
Indem ‚wach sein‘ als hervorragende oder gar beste Eigenschaft des Menschen angesehen wird, kann sie bei der Überwindung der planetaren Krise und bei der Suche nach Alternativen zu destruktiven Orientierungen eine zentrale Rolle spielen. Für Thomas Metzinger ist die Entwicklung einer „Bewusstseinskultur“ sogar „das Kernstück einer neuen Lebensform“.4
Wer die fatale Lage und die nicht grad lustigen Zukunfts-Aussichten der Menschheit erforscht, hat bis zu deren Ursachen vorzudringen. Aus buddhistischer Sicht geraten dann drei menschliche Beweggründe in den Mittelpunkt: Gier, Hass und Verblendung. Als Festhalten, Abneigung und Folgenleugnung sind sie zu Antriebskräften eines ökonomischen Systems mutiert, das sich durch Wachstumsdogmen, Konkurrenzkampf und Ignoranz gegenüber den Grenzen der Biosphäre auszeichnet. Dieser verinnerlichte engstirnige Wettlauf im Hamsterrad kann ‚Gier-Wirtschaft‘ genannt werden.

Diese Analyse führt zu zwei Ergebnissen:

  1. Einerseits waren es Menschen, die diese brisante Situation herbeigeführt haben, weswegen sie auch die Akteure der Lösung sind. Sie haben eine Gesellschaftsform entwickelt, die ihre individuellen Sehnsüchte (Besitzstreben, Gegeneinander, Selbsttäuschung) als allgemeines Regelwerk global durchsetzt.
  2. Gleichzeitig hat sich dieses Konzept als Turbo-Kapitalismus verselbständigt, der seine Funktionsprinzipien (Maximierung, Expansion, Ausbeutung der Zukunft) inzwischen rückkoppelnd – als eine Art ‚Flashback‘ oder sogar als ‚Peitschen‘ einsetzt und alle Beteiligten zwingt, auf dem gewohnten Irrweg zu bleiben. Die Menschheit ist gewissermaßen in eine selbstgebaute Falle geraten.

Zufrieden sein
Im Grunde ist der Kapitalismus das Ergebnis einer allgemeinen Drogenabhängigkeit. Die wahren Triebfedern dieses Regimes sind Angst (vor Verzicht, Verlust und Niederlagen) und Mangel (an Macht, Kontrolle und materiellen Mitteln). Sie führen zu Entzugserscheinungen, indem sie ständig ein latentes Gefühl aus Verlangen und Unzufriedenheit erzeugen. Süchtig nach Profit und Stimulationen hängt diese Wirtschaftsform vom Habenwollen- und Wettbewerbs-Denken ab und leugnet gleichzeitig die schädlichen Folgen ihres Steigerungsspiels.
Um dieser Zwickmühle zu entkommen, reicht ein simples ‚nein‘ zu den herrschenden Motiven und Zuständen nicht aus. Ein solches ‚nein‘ ist zwar Ausdruck von Kritik und Ablehnung, enthält an sich aber noch keine rettende Botschaft. Erst eine Auflösung dieser Anti-Haltung durch ein erneutes ‚nein‘ (‚Negation der Negation‘) zeigt Auswege auf. Es gilt, die Fixierung auf das Untergangssystem zu überwinden und die Blickrichtung zu wechseln.
Diese Wende sollte leicht fallen, denn die Menschheit konnte schon mal anders5 – und wir Menschen können auch anders6. Einige buddhistische Anregungen helfen, den Umschwung rechtzeitig zu vollziehen. Sie verknüpfen die Merkmale ‚hier‘, ‚ganz‘ und ‚wach‘ zu einem Ergebnis, das als ‚Samtusta‘ bezeichnet und mit ‚Du hast bereits genug‘ und ‚vollkommen befriedigt‘7 erläutert wird.
Wer aus einer Haltung grundsätzlicher Zufriedenheit heraus handelt, wird einen ‚Mittleren Weg‘ beherzigen. Auf ihm entsteht Konsum aus einer besonnenen Genügsamkeit, die sich am Gemeinwohl orientiert und die Beziehungen zur Natur auf integere Weise, also aufrichtig und behutsam gestaltet.
Mit derart ausgeglichenen Menschen wird die Wachstums-Ökonomie nicht funktionieren, denn diesem System ist die Kategorie ‚genug‘ wesensfremd. Demgegenüber wird eine von Suffizienz geprägte Gesellschaft ein ‚menschliches Maß‘8 beachten und sich vom Überfluss an Waren, Wünschen, Flexibilität, Stress usw. befreien. Sie wird eine Kultur des Genug entwickeln, die den Turbo-Kapitalismus überwindet, dem selbst zu viel noch nicht reicht.
Wer die Vermehrung des Eigentums hintanstellt und sich fragt ‚Was brauche ich wirklich?‘, wird sich frische Luft, sauberes Wasser, angemessenen Wohnraum, soziale Kontakte, gesunde Ernährung, geistige Entwicklung etc. wünschen. Wer den Erdüberlastungstag, die universelle Verantwortung, das Prinzip ‚global denken – lokal handeln‘ usw. im Blick behält, wird sich für langlebige Produkte, Reparieren, Teilen, Nachbarschaftshilfe, umweltgerechte Mobilität, freiwilliges Engagement, Entschleunigung, intellektuelle Redlichkeit, kluges Vorausschauen etc. einsetzen und sich an einem nachhaltig zukunftsfähigen Zusammenleben beteiligen. Wer Umwelt als Mitwelt versteht, wird sie schonen und pflegen – wie sich selbst. Der Vorrang der Ökologie vor der Ökonomie wird dann selbstverständlich sein und freiwillig beherzigt.

Wir können auch Kür
Die gegenwärtige planetare Krise enthält Widersprüche, die alle Menschen belasten. Um sie aufzulösen und in Zukunft möglichst zu vermeiden, werden attraktive Leitbilder benötigt. Als Orientierung bieten sich dabei auch buddhistische Überlegungen an. Wer sich hier auf dieser Erde ganz und zu Hause erlebt und sich wach um das wissende Gefühl bemüht, von Grund auf zufrieden zu sein, kennt eine jederzeit erreichbare innere Basis, von der aus es möglich ist, die sich nähernde große Transformation mitzugestalten und als ein persönliches Projekt ‚Ausfüllung‘ zu meistern.
Indem wir unsere Verbundenheit mit dem Universum wahr nehmen, ist unser Geist vollständig auf seinem Heimatplaneten angekommen. Indem wir diese Form der Anwesenheit ernsthaft und mit Freude akzeptieren, können wir ein enkeltaugliches Füreinander ausleben. Indem wir den Auf- und Ausbau einer Kultur des Genug anstreben, können wir nicht nur Integrität und Zufriedenheit entwickeln, sondern unser – einziges – Leben als ‚Kür‘ gestalten. Indem wir dabei Toleranz und Gleichmut praktizieren, betrachten wir unsere Inkonsequenzen und beginnen, sie anzunehmen und zu bearbeiten, so dass wir jeden Abend ohne Scheu in den Spiegel schauen und uns auf den nächsten Tag vorbereiten können. (21.10.2025)

  1. Peter Sloterdijk: Wie werden wir die nächsten hundert Jahre überleben? (Die Zeit, 17.8.2006)
  2. Thomas Metzinger: Bewusstseinskultur – Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise. Berlin 2023; Seite 7.
  3. vgl. Thich Nhat Hanh: Ich pflanze ein Lächeln; München 1991, Seite 23
  4. Metzinger: a.a.O., Seite 170
  5. Annette Kehnel: Wir konnten auch anders – Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit; München 2021
  6. Maja Göpel: Wir können auch anders – Aufbruch in die Welt von morgen. Berlin 2022
  7. ‚Samtusta‘ wird im Aryavamsa-Sutra im Sinne von ‚zufrieden, befriedigt, versöhnt sein‘ verwendet
  8. Ernst Friedrich Schumacher: Small is beautiful – Die Rückkehr zum menschlichen Maß (1973; dt. Reinbek 1977)